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Was der Mindestlohn bewirkt: 7 Wirk- und Handlungsfelder

  • Autorenbild: Stefanie Hornung
    Stefanie Hornung
  • vor 3 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Ab 2027 soll der gesetzliche Mindestlohn 14,60 Euro betragen. Den einen ist das zu wenig, den anderen zu viel. Die Debatte geht allerdings oft am eigentlichen Ziel vorbei. Der Bericht der Mindestlohnkommission und die bisherige Forschung lässt sich weiterdenken: Sieben Handlungsfelder für Unternehmen, Sozialpartner und Politik, um Menschen mit geringem Einkommen ein Leben in Würde und Teilhabe zu sichern.


Eine Hand mit blauem Plastikhandschu und ein Schein und eine Münze darauf
Quelle: Unsplash

Kürzlich verkündete die Mindestlohnkommission das Ergebnis ihrer Verhandlungen: Der Mindestlohn soll 2027 auf 14,60 Euro steigen, zuvor – Anfang 2026 – auf 13,90 Euro. Dieser Kompromiss bleibt unter den Erwartungen, die die neue Regierung im Koalitionsvertrag formuliert hatte: 15 Euro sollten schon 2026 möglich sein.


Gut? Oder schlecht?


Die Mindestlohnkommission hat sich eine neue Geschäftsordnung gegeben. Neben Tarifentwicklung, wirtschaftlicher Lage, Beschäftigtenschutz und Wettbewerbsfähigkeit zählt nun auch ein weiterer Faktor: der Medianlohn von Vollzeitbeschäftigten. Das heißt: Eine Hälfte verdient mehr, die andere weniger. Die EU empfiehlt 60 Prozent dieses Werts als Richtgröße. Im April 2024 lag der Mindestlohn von 12,41 Euro bei 52,8 Prozent des Medianlohns. Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung hätte der Mindestlohn 2026 auf 15 Euro steigen müssen, um 60 Prozent zu erreichen.


Warum folgte die Kommission nicht der EU-Empfehlung? Sie beobachtet nachlaufend die Tarifentwicklung statt auf Prognosen zu setzen. Eine reine Orientierung daran hätte nur 9,4 Prozent Erhöhung für zwei Jahre ergeben. Tatsächlich liegt die Erhöhung nun bei 13,9 Prozent. Der Medianlohn wurde offenbar mitbedacht, aber nicht konsequent.


Die Sitzungen und weitere Verhandlungsdetails sind geheim, doch der neue Bericht der Kommission gibt weitere Einblicke in die Entscheidungsgrundlage. Denn darin sind Studien verschiedener Forschungsinstitute zu Effekten des Mindestlohns seit seiner Einführung im Jahr 2015 eingeflossen. Daraus ergeben sich sieben Handlungsfelder – mit Spielraum für Unternehmen, Sozialpartner und Politik:


  1. Living Wage: Mindestlohn als Wegweiser zu Menschenwürde


Ein Mindestlohn von 15 Euro brächte Vollzeitbeschäftigten rund 2.600 Euro brutto im Monat. Doch ob das Armut wirksam bekämpft, bleibt umstritten. Studien zeigen: Seit 2015 hat der Mindestlohn den Niedriglohnsektor verkleinert und die Ungleichheit bei Stunden- und Monatslöhnen verringert. Trotzdem reicht das Nettoeinkommen oft nicht, um aus der Grundsicherung herauszukommen – selbst bei Vollzeit. Viele Betroffene arbeiten zudem in Teilzeit oder Minijobs.


Das heißt: Der Mindestlohn ist kein Living Wage – also kein Lohn, der einen menschenwürdigen Lebensstandard sicherstellt. Aber ein Hebel auf dem Weg dorthin.


Tipp für Unternehmen: Wer ein faires Grundgehalt gewähren möchte, sollte bei möglichen Anpassungen im Gehaltsgefüge am unteren Ende anfangen. Und über Pauschalbeträge statt prozentualer Anpassung nachdenken. So bleibt auch die Gehaltsschere konstant.


  1. Beschäftigungssicherung: Nicht ohne Qualifizierung


Die Angst vor Jobverlusten durch den Mindestlohn hält sich hartnäckig – obwohl sie bisher empirisch nicht belegt ist. Zwar rechnen Branchen wie Handel, Gastronomie, Handwerk oder Landwirtschaft bei steigenden Löhnen mit höheren Belastungen, doch blieben bisherige Erhöhungen ohne spürbare Arbeitsplatzverluste. Arbeitgeberverbände warnen dennoch: Gerade kleinere und mittlere Betriebe könnten die Kosten nicht stemmen – besonders in der aktuellen Wirtschaftslage.


Die Beschäftigung ist seit Einführung des Mindestlohns 2015 gestiegen. Studien zur 12-Euro-Anhebung zeigen leichte Rückgänge bei Minijobs, aber keine negativen Effekte auf reguläre Stellen.


Zudem kann der Mindestlohn dazu führen, dass Geringverdienende in produktivere Betriebe wechseln – in Zeiten des Fachkräftemangels nicht unbedingt ein Nachteil, da Arbeitgeber Personal suchen. Eine mögliche Schattenseite ist jedoch: Hohe Mindestlöhne bei Hilfstätigkeiten könnten den Anreiz zur Berufsausbildung mindern – und so das Fachkräfteproblem verschärfen.


Tipp für Unternehmen: Ein höherer Mindestlohn sollte nicht dazu führen, dass sich Geringverdienende nicht weiterbilden. Es lohnt sich, in Qualifikation und Kommunikation der Karrieremöglichkeiten durch Kompetenzerwerb zu investieren und Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen.


  1. Inflation: Lohn-Preis-Spirale verhindern


Betriebe geben erhöhte Lohnkosten häufig durch Preiserhöhungen weiter. Kausalstudien bestätigen: Die Einführung des Mindestlohns 2015 und die Anhebung auf 12 Euro 2022 führten zu Preisanstiegen – besonders bei Lebensmitteln und im Gastgewerbe. In Ostdeutschland war dieser Effekt stärker als im Westen. Die höchsten Preissprünge betrafen „Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke“ sowie „Gaststätten- und Beherbergungsdienste“.


Eine Lohn-Preis-Spirale gilt es zu verhindern. Denn steigende Preise treffen vor allem Geringverdienende – und befeuern Forderungen nach der nächsten (Mindest-)Lohnerhöhung.


Tipp für Unternehmen: Preissteigerungen wollen gut überlegt sein – Kunden wandern schnell ab. Wo sich Prozesse nicht verschlanken oder automatisieren lassen, kann man die Gehaltsstruktur prüfen – und in den höheren Lohngruppen geringere Gehaltserhöhungen andenken. Doch Vorsicht vor Gerechtigkeitsdebatten: eine erklärende, nachvollziehbare Kommunikation ist das A und O.

 

  1. Tarifbindung: Mindestlohn ist kein Ersatz für Tarifpolitik


Der Bericht der Mindestlohnkommission beleuchtet auch die Folgen des Mindestlohns für die Tarifbindung. Das Schreckgespenst der Gewerkschaften: Wenn die unteren Tarifgruppen bereits durch die Kommission definiert sind, könnte der „Bock auf Tarif“ schwinden. Sie fürchten, ein zu hoher Mindestlohn verdränge Tariflöhne – und erhöhe die Arbeitslosigkeit.


Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro im Oktober 2022 hat die Tarifgefüge messbar beeinflusst. Studien ergeben: Die untere Lohnverteilung wurde gestaucht. Das heißt, der Abstand zwischen Mindestlohn und oft tariflich festgelegten Löhnen knapp darüber schrumpft.


Tipp an Sozialpartner: Tarifverträge sind häufig mehr als 20 Jahre alt. Sie sind Unternehmen vor allem oft nicht flexibel genug und decken aktuelle Jobprofile nicht ab. Hier schlummert der wichtigere Hebel für mehr Tarifbindung.


  1. Gehaltsgefüge: Mehr als nur „unten schieben“


Mindestlohnerhöhungen beeinflussen oft das gesamte Lohngefüge. Um Abstände zu wahren, steigen auch Löhne oberhalb des Mindestlohns. Diese sogenannten Spillover-Effekte gibt es zum Beispiel in der Kurier-, Express- und Paketdienstbranche. Studien fanden Mindestlohneffekte von 3 bis 4 Prozent auf Stundenlöhne in Lohngruppen bis unter 16 Euro. Insbesondere in Ostdeutschland liegen viele Löhne nahe am Mindestlohn. Bleiben Anpassungen aus, drohen strukturelle Spannungen.


Tipp für Unternehmen: Ein stimmiges Gehaltsgefüge berücksichtigt den Wertbeitrag jeder Rolle. Wer sich schon vorab bei den unteren Lohngruppen an den 60 Prozent Medianlohn orientiert, kommt nicht in die Verlegenheit, bei Erhöhung des Mindestlohns das ganze Gehaltsgefüge mitziehen zu müssen. Die Mindestlohnanhebung können ein Anlass sein, um die Gehaltsstrukturen insgesamt anzupassen – partizipativ und transparent im Sinne von New Pay.


  1. Wettbewerbsfähigkeit: Produktivität statt Lohndumping


Höhere Löhne zwingen zur Effizienz – und treiben Innovation. Arbeitgeber warnen zugleich vor Margenverlusten und Insolvenzen. Die Studienlage: Trotz gestiegener Mindestlöhne stiegen die Firmenpleiten nicht messbar. Unternehmen reagieren mit Automatisierung, Prozessoptimierung, Umverteilung. Und: Höheres Einkommen stärkt die Kaufkraft – das stützt die Binnenkonjunktur.

Mindestlohnerhöhungen steigern qualitativen Studien zufolge oft Motivation und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten, da sie mit besserem Einkommen und höherer Wertschätzung einhergehen.


Ein weiterer Vorteil: Der Mindestlohn unterbindet Verdrängungswettbewerb über Lohnkosten und sorgt für transparentere Wettbewerbsbedingungen. Extremes Lohndumping wird schwieriger. Schwarze Schafe verschwinden zunehmend vom Markt – vor allem Kleinstbetriebe mit bis zu zwei Beschäftigten. Das Risiko bleibt dennoch: Schwarzarbeit verfestigt sich in manchen Sektoren wie dem Bau oder der Pflege, vor allem, wenn staatliche Stellen nicht eingreifen. Derzeit sind fast 2.500 Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) unbesetzt. Bei fast der Hälfte der rund 50.000 Ermittlungsverfahren 2024 wurde der Mindestlohn nicht oder zu spät gezahlt. Es gibt deutliche Umsetzungsdefizite.


Tipp an die Politik: Die Mindestlohnanhebung sollte mit einer Aufstockung der FKS einhergehen – ohne Kontrollen bleibt jedes Gesetz zahnlos. Eine gute Idee der Kommission ist auch ein risikobasierter Ansatz: Der Zoll sollte sich auf Branchen, Betriebsgrößen und Regionen mit hoher Mindestlohnrelevanz konzentrieren.


Tipp an Unternehmen: Der Mindestlohn ist mehr als eine Kostenposition – er kann zur strategischen Neuausrichtung anregen. Digitalisierung, Schulung und Beteiligung wirken nachhaltiger als bloßes Sparen. Am besten vorausschauend – nicht erst bei der nächsten Mindestlohnerhöhung.


  1. Vision für faire Mindeststandard: 60 Prozent vom Medianlohn


Trotz gesetzlicher Vorgaben bleibt die Umsetzung des Mindestlohns lückenhaft: durch nicht erfasste Arbeitszeiten, unbezahlte Mehrarbeit oder unzulässige Anrechnung von Kost und Logis. Eine nominale Erhöhung führt deshalb nicht immer zu spürbar mehr Einkommen.


Dennoch: Der gesetzliche Mindestlohn ist ein Instrument mit positiver Gesamtbilanz. Natürlich unterstützt New Pay partizipative Prozesse. Aber: Mindeststandards wie Arbeitsschutz und Mindestlohn gehören gesetzlich geregelt. Die Tarifautonomie beginnt dort, wo existenzsichernde Rahmenbedingungen garantiert sind. Der Medianlohn und damit die EU-Mindestlohnrichtlinie ist dafür bestens geeignet: Er steigt nicht automatisch mit, wenn der Mindestlohn erhöht wird – und verhindert so eine wechselseitige Aufwärtsspirale ohne reale Veränderung der Lohnstruktur. Das macht ihn zu einer verlässlicheren Grundlage für faire Anpassungen.


Tipp an die Politik: Wer 60 Prozent des Medianlohns anpeilt, sollte auch offen darlegen, wie und wann das Ziel Schritt für Schritt erreicht werden soll.


Die Autorinnen



Stefanie Hornung liegt nachhaltiges Management und Vergütung am Herzen. Ob im Newsletter "Gehaltvolle Zeilen" oder auf dem Blog - sie greift aktuelle Themen der Arbeitswelt auf und komponiert Geschichten mit Tiefgang.





Nadine Nobile ist New Pay Pionierin durch und durch. Als Organisationsbegleiterin und als Autorin teilt sie ihre Wissen und ihre Erfahrungen gerne mit allen, um New Pay in die Welt hinauszutragen.

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